Gewalt
Hunger
Krankheit
Tod

Jeglicher Kontakt mit der Lager-SS war von Gewalt geprägt. Hunger war der ständige Begleiter auch für die Kinder und Jugendlichen im KZ. Durch die katastrophalen hygienischen Bedingungen häuften sich Krankheiten, vor denen es kaum Schutz gab.

Ständig lebten die Kinder und Jugendlichen in der Angst vor dem Tod. Viele Menschen, darunter Freund:innen und Verwandte, sahen sie sterben. Während die Kinder und Jugendlichen durch Hunger und Krankheit in ihrer körperlichen Entwicklung zurückblieben, wurden sie geistig ihrer Kindheit beraubt.

Gert Silberbard im Interview mit David P. Boder in Genf, 27. August 1946.

Mit 16 Jahren wurde Gert Silberbard aus Auschwitz nach Buchenwald deportiert. An den Entzug von Essen und Wasser nach der Ankunft im Kleinen Lager erinnerte er sich 1946 lebhaft.

(„Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology)

Speisen für einen ganzen Werktag

8 Uhr – Erstes Frühstück

1 Glas heiße Milch mit Butter und Honig
Brötchen mit Butter und Schinken
Brötchen mit Honig
Brötchen mit Konfitüre oder mit etwas Anderem.

11 Uhr – Zweites Frühstück

Eierkuchen mit Schinken und Rührei, in Paniermehl gewälzt
und in Butter gebraten.
Überbackene Nudeln mit Eiern, Honig
und zerlaufener Butter sowie Reisbratling
Nudeln mit Äpfeln, Butter und Brötchen

14 Uhr – Mittagessen

Klare Suppe (Graupensuppe) aus Hühnerbrühe und Semmelbrösel
oder dazu üppige gegossene Teignudeln
Gefülltes Rindfleisch mit Kartoffeln und Paprikasoße
Auflauf aus italienischen Nudeln mit geräucherter Wurst und Tomaten
Piroggen mit Leber
Dessert aus Gries mit Vanillesoße
Obstsüßspeise, Pudding aus Hirsegrütze mit Konfitüre
Ein Glas Eierlikör

17 Uhr – Vesper

Spargel in Tomatensoße
Blumenkohlbratlinge
Gelegte Nudeln mit Butter und Brötchen
Gefüllte Paprika mit Tomatensoße
Kartoffelpuffer mit Creme.

Der Speiseplan ist unvollendet. ES IST WIEDER ALARM!

Erträumter Speiseplan für einen ganzen Werktag von Maria Brzęcka, Dezember 1944.

Die damals 14-jährige Maria Brzęcka entwarf im Arbeitslager Meuselwitz einen Speiseplan für die Freiheit. An den Geschmack der meisten Gerichte konnte sie sich jedoch nicht mehr erinnern und bat die Frauen auf ihrer Stube, ihr den Geschmack zu beschreiben. Aufgrund eines Fliegeralarms blieb der Speiseplan unvollendet.

(Als Mädchen im KZ Meuselwitz. Erinnerungen von Maria Brzęcka-Kosk, Dresden 2016)

Kontrast zum erträumten Speiseplan: Wassersuppe im Arbeitslager. Zeichnung von Maria Brzęcka, 1945.

Tagtäglich standen lediglich etwas Brot zum Frühstück und eine wässrige Suppe als Abendbrot auf dem Speiseplan. Der Hunger war der ständige Begleiter.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Das aßen wir“. Zeichnung von Thomas Geve, 1945.

Der 16-jährige Junge verglich in seiner Zeichnung die Lebensmittelrationen in Auschwitz und Buchenwald, wo er am 11. April 1945 befreit wurde.

(Yad Vashem)

„Wir gingen also mit schweren, giftigen Rohstoffen um, nahmen alles ohne Schutzhandschuhe in die Hand, für uns waren keine Schutzmasken und Schürzen erforderlich, wir atmeten alle Gifte ein und standen bis zu den Knien in Salpeter. Die Einheimischen nannten uns »Zitronen«, weil unsere Haut so gelb verfärbt war.“

Éva Pusztai-Fahidi erinnert sich an die tödlichen Arbeitsbedingungen, 2011.

Die aus Ungarn verschleppte Éva Fahidi musste als Jugendliche im Außenlager Münchmühle schwere Zwangsarbeit leisten. Die Arbeitsbedingungen in der Munitionsfabrik waren mörderisch und vor gesundheitsgefährdenden Stoffen konnten sich die Häftlinge nicht schützen, da es für sie keine Schutzkleidung gab.

(Éva Fahidi, Die Seele der Dinge, Berlin 2011)

Tanguy Tolila-Croissant, um 1943.

(Comission Dora-Ellrich)

Gipsfresko aus einem Unterkunftsblock im KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte, angefertigt von Tanguy Tolila-Croissant im Herbst 1944.

Tanguy Tolila-Croissant wurde am 16. Oktober 1925 in Paris geboren. 1942 begann er ein Kunststudium an der Pariser École Nationale Supérieure des Beaux Arts. Im Juni 1944 wurde er wegen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer verhaftet und im August 1944 in das KZ Buchenwald und wenig später nach Ellrich-Juliushütte deportiert. Dort versah er Wände in seinem Block mit Fresken. Aus der Zeit vor seiner Verhaftung sind viele ähnliche Bilder von ihm überliefert – mit einem Unterschied: Nie ist darauf wie hier ein toter Baum zu sehen. Tolila-Croissant starb am 30. Dezember 1944 im Alter von 19 Jahren.

(Deutsches Historisches Museum)


Spielen
Kontakte
Fantasie
Hoffnung

Um dem von Gewalt und Todesangst geprägten Lageralltag zu entfliehen, nutzten viele Kinder und Jugendliche ihre Fantasie und versuchten sich durch Spiele in eine andere Welt zu begeben. Manche begaben sich auch zeichnerisch in Fantasiewelten.

Für die Kinder und Jugendlichen, die alleine ins KZ verschleppt worden waren, bildeten Kontakte zu Mithäftlingen eine Voraussetzung, den Überlebenswillen nicht zu verlieren. Die jungen Häftlinge spendeten sich gegenseitig Hoffnung und Trost. Überlebenswichtig waren Kontakte zu erwachsenen Funktionshäftlingen mit Einflussmöglichkeiten.

„Warst du im Lager Buchenwald, da oben ist es gar so kalt“. Gedicht und Zeichnung von Johann Stojka, 26. Februar 1945.

Der 15-jährige Rom wurde im Sommer 1944 mit seinem Bruder von Auschwitz nach Buchenwald verschleppt. In einem Heft hielt er seine Erfahrungen mit Versen und Zeichnungen fest. Hoffnungsvoll endet sein Gedicht mit den Worten: „Wir kommen doch noch einmal raus“. Die beiden Brüder überlebten als einzige ihrer Familie.

(Kazerne Dossin, Mechelen)

Zeichnung von Maria Brzęcka aus dem Außenlager Meuselwitz, 1944/45.

Um der Realität des Frauenlagers Meuselwitz zu entfliehen, zeichnete die damals 14-jährige Maria Brzęcka. Ein kleiner Bleistift und alte Kontrollscheine aus dem Werk, in dem sie Zwangsarbeit leisten musste, erlaubten Maria, sich ihre „eigene Traumwelt“ zu erschaffen. Sie zeichnete Szenen aus dem Leben vor dem Krieg, die sie sich von älteren Mithäftlingen schildern ließ. Daneben sind auch viele Zeichnungen von extravaganten Frauengestalten erhalten.

(Gedenkstätte Buchenwald)

Tagebuch von Leopold Claessens, 1./2. April 1945.

Auch das heimliche Führen von Tagebüchern oder Notizen war eine Strategie der Selbstbehauptung und des Überlebens. Der Belgier Leopold Claessens wurde im Alter von 19 Jahren als politischer Häftling in das KZ Mittelbau-Dora verschleppt. Im April 1945 überlebte er einen Räumungstransport in das KZ Bergen-Belsen. Das Tagebuch führte er rückwirkend nach seiner Ankunft in Bergen-Belsen und zeichnete auf, was er zu essen bekommen hatte.

(privat)

Blumen gegen Brot. Franz Rosenbach im Interview mit der USC Shoah Foundation, 23. Oktober 1998.

1944 kam Franz Rosenbach als 17-Jähriger Sinto nach Mittelbau-Dora. Im Lager war Hunger ein stetiger Begleiter. Um seine geringe Brotration aufzubessern, begann er in seiner freien Zeit Blumen zu pflücken und diese beim Blockältesten gegen Brot einzutauschen. Der Kontakt zu den privilegierten Funktionshäftlingen konnte überlebenswichtig sein.

(Visual History Archive)

„Mit Papi im Zoo“. Lagerkommandant Karl Otto Koch mit seinem Sohn Artwin im Zoo von Buchenwald, Oktober 1939.

1938 errichtete die SS auf dem Ettersberg einen Zoo. Er diente als Freizeitangebot für die SS und ihre Familien. Während für die im Lager leidenden Kinder Spielen nur begrenzt möglich war, befand sich der Zoo unmittelbar außerhalb des Lagerzauns. Dort vergnügten sich die Kinder des SS-Personals.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Humor war ein wesentlicher Teil unseres geistigen Widerstands. Und dieser geistige Widerstand war kurz gesagt die Voraussetzung für einen Lebenswillen. Das sage ich Ihnen als Exhäftling. Ganz gleich, wie selten er vorkam, wie sporadisch oder wie spontan, er war von großer Bedeutung. Von sehr großer Bedeutung!“

Humor als Überlebensmittel. Felicija Karay in einem Zeitzeugeninterview, um 2000.

Von Juli 1944 bis April 1945 musste die 17-jährige Felicija Schächter (verh. Karay) für die HASAG Leipzig Zwangsarbeit leisten. In einem Interview mit der Psychologin Chaya Ostrower beschrieb sie Humor als Mittel des geistigen Widerstands.

(Chaya Ostrower: Es hielt uns am Leben. Humor im Holocaust, Wiesbaden 2018)

Hasag ist unser Vater,
er ist der Beste von allen,
er verspricht uns vor allem
lauter glückliche Jahre.
In Leipzig man ein Paradies auf Erden hat,

Brot und Butter und Gemüsesalat,
Luxuswohnungen statt einem Loch,
saubere Pritschen, vier Etagen hoch,
Toiletten und Duschen zu jeder Zeit
Und für jede Frau – ein Häftlingskleid!

Refrain:
Denn der Kommandant, der will,
dass hier nur Ordnung herrscht,
zu Beruhigung der Nerven,
bevor wir uns verwandeln,
in Büchsen von Konserven […]

HASAG-Hymne. Humorvoller Gesang der Häftlinge, vor 1945.

Die Frauen und Mädchen, die im Außenlager der HASAG Leipzig Zwangsarbeit leisten mussten, dichteten eine humorvolle Hymne, die sie häufig gemeinsam sangen. Die Zustände im Lager wurden in satirischer Weise beschrieben.

(Felicija Karay: Wir lebten zwischen Granaten und Gedichten: Das Frauenlager der Rüstungsfabrik HASAG im Dritten Reich, Köln 2001)

Szene aus dem Märchen Schneewittchen. Gipsfresko des französischen Häftlings Georges Sanchidrian im KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte, 1944.

Georges Sanchidrian fertigte im Unterkunftsblock 4 des Außenlagers von Mittelbau-Dora farbige Wandbilder auf den mit Gips verputzten Wänden an. Einige Fresken mit Märchenszenen blieben erhalten. In dem Block waren neben Erwachsenen auch jugendliche Häftlinge untergebracht. Sanchidrian (geb. 1905) starb auf einem Todesmarsch im April 1945.

(Deutsches Historisches Museum)


Freundschaft
Eltern
Geschwister

Um zu überleben, brauchten Kinder und Jugendliche in den Lagern die Hilfe von Freund:innen, Familienangehörigen oder erwachsenen Mitgefangenen. Gerade für die Kinder waren Bindungen zu anderen Menschen wichtig, um den Lebenswillen nicht zu verlieren. Beziehungen halfen bei der Beschaffung von Essen und Kleidungstücken. Lebensrettend konnte es sein, mit Hilfe von Funktionshäftlingen einem leichteren Arbeitskommando zugewiesen zu werden.

Die meisten Kinder und Jugendlichen kamen alleine nach Buchenwald oder Mittelbau-Dora. Nur wenige waren in Begleitung ihrer Eltern oder Geschwister. Manche erlitten in den Lagern den Verlust ihrer Angehörigen.

„Und hier unten werde ich das Datum eintragen, wenn ich meine teure und geliebte Mutter und meinen Vater in Gesundheit wiedersehen werde“. Auszug aus den Aufzeichnungen von Alex Hacker, 10. Februar 1945.

In einem heimlich geführten Tagebuch gestaltete Alex Hacker bereits während der Haft im KZ Mittelbau-Dora einen Eintrag für den Tag seiner Heimkehr. Für das Datum ließ er eine Lücke stehen. Als er am 28. August 1945 in seine Heimatstadt Budapest zurückkehrte, konnte er die Leerstelle füllen.

(privat)

Ludwig Hamburger:
Das einzige Gute war, wir haben den Mut nicht verloren.
David Boder:
Sie haben den Mut nicht verloren – wie ist das gekommen?
Ludwig Hamburger:
Ich hab‘ immer im Sinn gehabt meine Eltern […] Wie ich ein Kind war [...] ja den Mut darf man nicht verlieren und ich habe immer meine Mutter gehört und an meine Mutter gedacht.

Ludwig Hamburger im Interview mit David P. Boder, 28. August 1946.

Ludwig Hamburger wurde 1927 in Katowice (Polen) geboren. Von dort wurde er 1941 gemeinsam mit anderen Jugendlichen in das KZ Auschwitz deportiert. Im Winter 1944 schickte ihn die SS auf einen Todesmarsch nach Buchenwald. Dort erlebte er die Befreiung und kam mit einem Hilfstransport in ein Auffanglager in Genf (Schweiz), wo David Boder ihn 1946 befragte. Seine Mutter sah er nach 1941 nicht mehr wieder.

(„Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology)

Naftali Fürst (links) und sein Bruder Shmuel in Bratislava, 1936.

Die Brüder Naftali und Schmuel Fürst kamen im Januar 1945 aus Auschwitz nach Buchenwald. Beide konnten durch die Hilfe von Funktionshäftlingen im Kinderblock 66 im Kleinen Lager untergebracht und dort geschützt werden. Naftali wurde dort am 11. April befreit, sein Bruder Schmuel wurde von der SS auf einen Todesmarsch getrieben und erst Anfang Mai 1945 befreit. Beide trafen sich im Sommer 1945 in Bratislava wieder.

(privat)

„Ich sage immer, dass in den Lagern die leichteste Sache war zu sterben, aufgeben und sterben. Die schwere Sache war weitermachen und kämpfen. Und da mussten wir kämpfen für unser Leben und jeder Schritt war Kampf. Und da kann ich auch sagen, ich bin überzeugt, dass darum, dass wir waren zwei Brüder zusammen, hat uns sehr geholfen. Wenn ich möchte allein sein, zehn Jahre alt, elf Jahre altes Kind, ich glaube ich könnte das nicht mitmachen, weil das war schrecklich. Wir waren todmüde, todhungrig, nass, das kann man sich nicht vorstellen.“

Naftali Fürst im Interview in Haifa, 2009.

Die beiden Brüder Naftali und Shmuel Fürst überlebten im Winter 1945 unter widrigsten Bedingungen den Todesmarsch aus dem KZ Auschwitz nach Buchenwald. Der Zusammenhalt der Brüder half ihnen im Kampf ums Überleben.

(erinnern.at)

Freundschaft im Konzentrationslager: Ludwig Hamburger im Interview mit David P. Boder, 26. August 1946.

Ludwig Hamburger und sein Freund überlebten einen Todesmarsch vom KZ Auschwitz nach Buchenwald und wurden dort befreit. Sie gingen anschließend gemeinsam in die Schweiz.

(„Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology)

Befreite jüdische Kinder in Buchenwald, 20. April 1945.

Zweiter von rechts in der zweiten Reihe ist Markus Milstein. Sein Bruder Shraga wurde im Januar 1945 nach Bergen-Belsen gebracht und dort befreit. Die Milstein-Brüder stammten wie andere Jungen auf dem Foto aus Piotrków Trybunalski und blieben in Buchenwald als Gruppe zusammen. Zu der Gruppe gehörte auch Israel Meir Lau (vordere Reihe, zweiter von rechts). Er war von 1993 bis 2003 aschkenasischer Oberrabbiner des Staates Israel.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Die Gruppe – das hat sehr geholfen, die Zeit zu überstehen“. Bericht von Shraga Milstein, Februar 2021.

Im Interview erwähnt er das Foto aus Buchenwald, auf dem sein befreiter Bruder Markus zu sehen ist.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Und ich habe mich mit diesem Jungen angefreundet. Das war Ende 1942. Ende 1944 oder Januar 1945, als ich in den Kinderblock in Buchenwald komme, ist dieser Junge auch dort. Ich erkenne ihn, und er erkennt mich, nach fast zwei Jahren. Wir sagen nichts. Das erste, was er macht: er nimmt die Hälfte seines Brotes und gibt sie mir. Und wissen Sie, ein Stück Brot in Buchenwald, das ist, kann ich Ihnen sagen, das Leben.“

Ein Stückchen Brot. Jack Aizenberg im Interview mit der USC Shoah Foundation, 8. Juli 1997.

Jack Aizenberg wurde als 16-jähriger im Winter 1944 nach Buchenwald deportiert. Dort kam er zusammen mit anderen Jugendlichen in den Kinderblock 66. Nach der Befreiung emigrierte er nach Manchester (England), wo er gemeinsam mit anderen ehemaligen Buchenwaldhäftlingen in ein Heim kam. Einige Zeit wohnte er dort auch mit seinem Freund Pinchas Koronitz zusammen, den er in Buchenwald kennengelernt hatte.

(Visual History Archive)