Child Survivors als Akteure in der Erinnerungskultur
In der frühen Nachkriegszeit wurden die Kinder und Jugendlichen, die 1945 im KZ Buchenwald und dessen zahlreichen Außenlagern befreit worden waren als „Buchenwald Boys“ bekannt. Doch bereits in den 1950er Jahren ebbte das öffentliche Interesse an ihren Geschichten wieder ab.
Child Survivors wurden lange nicht als eine spezifische Gruppe von Überlebenden wahrgenommen. Erst in den letzten 20 Jahren erhielten die als Kinder oder Jugendliche Befreiten größere Aufmerksamkeit – auch weil es kaum noch Überlebende gibt, die als Erwachsene befreit wurden.
Nach jahrelangen Verhandlungen wurden jüdische Child Survivors (geboren 1928 oder später) in Deutschland erst 2014 als Opfergruppe anerkannt. Dadurch haben sie Anspruch auf Entschädigungszahlungen für die traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend.
Frühe Erinnerungszeichen: Befreite „Buchenwald Boys“ lassen sich in Paris in Häftlingsuniform fotografieren, Juli 1945.
Eine gemeinsame Erinnerung an die Erfahrungen im KZ war für die Jugendlichen wichtig, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Die drei in Buchenwald befreiten jüdischen Jugendlichen Benek Wrzonski (links), Heniek Kaliksztajn (mitte) und Zelig Ellenbogen (rechts) schlossen sich am 8. Juni 1945 dem Kinderhilfstransport nach Frankreich an. In Paris gingen sie zusammen mit weiteren „Buchenwald Boys“ in ein Fotostudio, um sich alle in derselben Häftlingsuniform fotografieren zu lassen. Die Häftlingskleidung gehörte vermutlich Mozes Kuznitz.
(United States Holocaust Memorial Museum)
„Die Erfahrungen meiner Jugend sind unwiderruflich und absolut. Die Welt kann mir nicht mehr zurückgeben, was sie mir genommen hat. Ich habe meine geliebte Mutter verloren. Ich habe fast alle Mitglieder meiner Familie verloren. Und ich habe fast jeden Freund und jeden Bekannten meiner Kindertage verloren. Ich habe meine Muttersprache und die Fähigkeit, an etwas zu glauben oder irgendjemanden zu vertrauen, verloren, und für viele Jahre hatte ich mich selbst, meine eigene Identität verloren.“
„Meine eigene Identität verloren“. Bericht von Thomas Geve, 2000.
Die existenziellen Verlusterfahrungen in seiner Kindheit prägten das Leben von Thomas Geve. Der 1929 in Stettin als Stefan Cohn Geborene wanderte nach seiner Befreiung im KZ Buchenwald nach Israel aus.
(Thomas Geve, Aufbrüche. Weiterleben nach Auschwitz, Konstanz 2000)
„Erinnerst Du Dich an mich?“ Umhängeschild von Julius Maslovat, 2010.
Julius Maslovat, geboren als Yidele Henechowicz, wurde im Januar 1945 von Buchenwald nach Bergen-Belsen überstellt. Dort wurde er im April 1945 im Alter von knapp drei Jahren befreit. Als Waise wuchs er in Finnland bei Adoptiveltern auf und wusste jahrzehntelang kaum etwas über seine Herkunft. Auf der Suche nach Informationen trug er 2010 bei der Gedenkveranstaltung zu 65. Jahrestag der Lagerbefreiung in Bergen-Belsen dieses Schild.
(Privatbesitz Julius Maslovat)
Julius Maslovat (l.) und Shraga Milstein (r.) in der Ausstellung „Kinder im KZ Bergen-Belsen“, April 2018.
Beide waren im Januar 1945 im selben Transport von Buchenwald nach Bergen-Belsen gebracht worden und trafen 2018 erstmals wieder zusammen.
(Foto: Diana Gring, Gedenkstätte Bergen-Belsen)
„FREE CHAMPAGNE“. Einladung der Buchenwaldgruppe in Melbourne zum 40. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald, 1985.
Viele der 1945 im KZ Buchenwald befreiten Kinder und Jugendlichen emigrierten nach Australien. Seit den 1950er Jahren feiern sie den Tag der Befreiung mit einem festlichen Ball.
(privat / Monach University Melbourne)
Child Survivor oder Child of Survivors? Estare Weiser (geb. Kurz), 1946 (links) und 2021 (rechts).
Am 13. April 1945 wurde Estare Kurz im KZ-Außenlager HASAG Leipzig geboren. Ihre Eltern wandern 1951 mit der sechsjährigen Tochter in die USA aus. Sie wuchs im New Yorker Stadtteil Brooklyn auf.
(privat)
„Auch wenn ich in gewisser Weise keine normale Kindheit hatte, ich hatte dennoch eine Kindheit. Ich sehe mich also nicht als Child Survivor. Sie können mich so nennen, aber ich sehe mich viel mehr als das Kind von Überlebenden.“
Estare Weiser (geb. Kurz) im Interview, 26. Januar 2021.
(FSU Jena)
Bücher von Child Survivors aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora (Auswahl), 2021.
Seit den 1990er Jahren wurden in größerer Zahl Berichte überlebender Kinder und Jugendlicher veröffentlicht. Erst im hohen Alter fanden viele Überlebende den Mut und die Kraft, über ihre KZ-Erinnerungen zu schreiben. Außerdem nahm die Bereitschaft der Öffentlichkeit zu, ihnen zuzuhören.
(Foto: Stefan Lochner, Gedenkstätte Buchenwald)
Das jüdische Gedächtnis an die Lager wird langlebiger, wird sehr viel dauerhafter sein. Dies aus dem einfachen Grund: Weil es deportierte jüdische Kinder gab, Tausende und Zehntausende, während es keine deportierten Kinder aus dem politischen Widerstand gab. […] In diesem Sinne fällt eine große Verantwortung auf das jüdische Gedächtnis der Zukunft. Denn es wird zum Bewahrer und Verwalter aller Erfahrungen der Vernichtung werden: als erstes natürlich der eigenen jüdischen Erfahrung. Dann aber auch all der anderen Erfahrungen: die der Sinti und Roma […] die der politischen Gegner des Hitlerregimes, deutsche Kommunisten, Sozial- und Christdemokraten; schließlich die der Widerstandskämpfer aus den antifaschistischen Guerillabewegungen in ganz Europa.
„Eine große Verantwortung“. Rede von Jorge Semprún zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald im Deutschen Nationaltheater in Weimar, 10. April 2005.
Eindringlich bat der spanische Schriftsteller die jüdischen Child Survivors, das Vermächtnis der politisch Verfolgten, die meistens älter waren, zu bewahren. Jorge Semprún starb 2011 im Alter von 87 Jahren. Er hatte Buchenwald als politischer Häftling überlebt.
(Gedenkstätte Buchenwald)